Nachwort von Sylvia Bräsel zu Warum das Mädchen Sim-Tscheong zweimal ins Wasser ging


Koreanischer Zeitgeist oder Theater der Zeit?


Seit Jahrhunderten wird die Geschichte von dem Mädchen Sim-Tscheong von Generation zu Generation weitererzählt. Sie reicht tief hinab in das Reich der koreanischen Mythen und Märchen, erhellt die Gedankenwelt des koreanischen Volkes, sein Denken und Fühlen. Aber auch recht diesseitige soziale Beziehungsgefüge einer konfuzianistisch geprägten Gesellschaft scheinen darin auf, die wiederum die ideologische Basis der Yi-Dynastie (1392-1910) repräsentieren. Denn Sim-Tscheongs Sprung in den sicheren Wassertod wie ihre wunderbare Auferstehung und Erhebung durch den Drachenkönig sind nicht nur als märchenhafter Lohn für eine gute Tat zu lesen. Ihre Worte in der Legende: »Ich sterbe, damit sich der Wunsch meines blinden Vaters erfüllt. Oh Gott, gib meinem Vater das Augenlicht, damit er die Welt sehen kann« sind an erster Stelle als aufopfernde Tochterliebe zu interpretieren, die im Standardlehrbuch des Konfuzianismus nach den drei grundsätzlichen Regeln, ›Samgang‹ genannt, eingefordert wird. In dieser Ordnung erscheinen König, Vater und Ehemann als die Personen, denen man sich in bedingungsloser Treue bis in den Tod unterzuordnen hatte. Somit gehört Sim-Tscheong zu den mustergültigen Beispielen konfuzianistischer Verhaltensnormen.

»Pansori«, eine Art Volksoper mit einem Sänger oder einer Sängerin, hat besonders als musikalisches Solo-Schauspiel über Jahrhunderte zur Verbreitung des Märchens und des damit verbundenen Gedankengutes beigetragen. Andererseits ermöglicht diese freie Form bis heute variierende Rezeptionsweisen, die kritische Einsichten nicht ausschließen. Denn »Pansori« hat auch in der Gegenwart seine Anziehungskraft nicht verloren. Das moderne koreanische Theater entdeckte schon längst die Möglichkeiten dieser alten Kunst für sich. Das erlebte ich in einer Aufführung des Stückes »Der Zehennagel des Generals Oh«. In diesem auf jüngster koreanischer Geschichte basierenden Stück, das mit seinem Mutterwitz und seiner volkstümlich-deftigen Kritik an einer gewissenlosen Kriegsführung an Haseks »Abenteuer des braven Soldaten Schwejk« oder Brechts Komödie »Schweyk im zweiten Weltkrieg« erinnert, bindet eine Pansori-Sängerin das Geschehen. Sie ist Interpretin, Publikum und auch ein wenig moralische Instanz, ähnlich der Funktion des Chores in der griechischen Tragödie. In Joh-Yeol Parks 1974 geschriebenem Stück wird jedoch der Tod des Soldaten Oh nicht mehr als notwendiges oder ehrenhaftes Opfer im konfuzianistischen Sinne dargestellt, sondern als Mißbrauch von Macht angeprangert. Die Naivität und Gutmütigkeit Dschan-Guns, dem die Bedeutung seines Vornamens »General« zum Verhängnis wird, steht im krassen Gegensatz zum kalten und menschenverachtenden Verhalten seiner militärisch ausgerichteten Umwelt. Diese in einer Gratwanderung zwischen Tragik und Komik vorgetragene Anklage konnte erst mit der einsetzenden Demokratisierung in Südkorea 1988 in Seoul uraufgeführt werden.

Wie der 1930 in Nordkorea geborene Park wendet sich auch der sechs Jahre jüngere Eui-Kyung Kim vorrangig historischen Stoffen zu, die die eigene Erfahrungswelt tangieren. Jedoch setzt der Autor des Stückes »Auferstehung eines Ochsenmalers« (1991) stärker auf Fakten und Authentizität. Die dramatisierte Lebensgeschichte des berühmten koreanischen Malers Zung-Seop Lee schöpft aus einem beachtlichen Materialfundus und verbindet das Einzelschicksal mit den großen Fragen der Zeit. Die Spannbreite reicht von der japanischen Kolonialherrschaft bis zum zweiten Weltkrieg und der Teilung des Landes. In dem Sinne ist Kims Dramatik mehr intellektuelles Lehrstück als Theatererlebnis. Andererseits weiß der Autor Menschheitsmuster zu inszenieren, wenn es u.a. um die Möglichkeiten und Grenzen von Kunst, die Suche nach dem Sinn des Lebens oder die Stellung des Künstlers in einer konfrontativen Welt geht. Heimatbindung wie Heimatverlust werden zudem als gewichtige Fragestellung der koreanischen Gegenwartsliteratur vielfach eingebunden. Hier schließt sich nicht zuletzt der Kreis zu wesentlichen Themen koreanischer Gegenwartsautoren in Epik, Lyrik wie Dramatik.

Dagegen erscheint das bereits 1972 von Kang-Baek Lee geschriebene Stück »Fisch ist Fisch« mehr an der westlichen Sachlichkeit eines Beckett als an koreanischer Mentalität geschult. Die auf den ersten Blick spröden Dialoge des 1947 geborenen Künstlers sind ein Feuerwerk an drängenden Fragestellungen in einer sich versachlichenden Welt, die Nachdenken, Verantwortlichkeit und Mitmenschlichkeit als überlebte Werte verlachen läßt. Natur oder lebbare Umwelt gibt es in diesem Stück nicht mehr. Eine bittere Leere wird mit scharfsinniger Ironie dem Rezipienten zum Weiterdenken angeboten. Lee gehört offensichtlich jener neuen Autorengeneration an, die bereits in der Jugend mit Militärherrschaft wie rigorosem Wirtschaftswachstum konfrontiert wurde. Dieses Grunderlebnis läßt weniger Raum für die Spezifik der ostasiatischen Kultur, die oft in Europa Exotik genannt wird. Seine Dramen reflektieren schon die Probleme einer postmodernen Gesellschaft. Vielleicht ist das ein Grund dafür, daß die übersetzung und Aufführung des Stückes im benachbarten hochindustrialisierten Japan eine große Resonanz fand.

Andererseits zeigt die Entwicklung der Theaterszene seit den siebziger Jahren in Korea auch das wachsende Selbstbewußtsein der Koreaner an, das wiederum in Verbindung mit den internationalen Wirtschaftserfolgen von koreanischen Unternehmen wie Samsung, Daewoo oder Hyundai zu sehen ist. Diese Öffnung zur Welt, die die Aufnahme und Auseinandersetzung mit anderen Lebensvorstellungen und Denkmustern in Alltag wie Kultur beförderte, trug wesentlich zu den Möglichkeiten wie Problemstellungen der Gegenwartskunst in Wort und Schrift bei. So haben einige junge Regisseure in den Vereinigten Staaten oder Europa studiert. Ihre Inszenierungen experimentieren nicht selten mit koreanischer und westlicher Theatertradition zugleich. Insgesamt ist zu beobachten, daß eine Reihe von Theaterleuten mit ihren Angeboten Gegengewichte zu den meist amerikanisierten ›Seifenopern‹ zu schaffen versuchen und auf ihre Weise gegen eine einsetzende Verflachung der Film- und Fernsehangebote in den Massenmedien des Landes polemisieren. Zudem gibt es neben den großen Schauspielhäusern eine beachtliche Anzahl von kleinen Bühnen und privaten Theatergruppen in Korea. Allein in Seoul zählte ich kürzlich an die dreißig Kleinbühnen mit einem eigenständigen Repertoire koreanischer, asiatischer wie westlicher Stücke. Es ist schon ein bleibender Eindruck, einmal am Abend das Künstlerviertel Taehangno im Herzen der Hauptstadt zu erleben. Da erinnert manches – natürlich in moderner Art – an die impulsive, ursprüngliche Theaterluft der zwanziger Jahre in Berlin. Zwei der im Band vorgestellten Dramatiker – Tae-Suk Oh und Eui-Kyung Kim – unterhalten wohl auch deshalb eine eigene Theatergruppe.

Auf recht originäre Art präsentiert sich besonders der 1940 geborene Tae-Suk Oh, der wie der vier Jahre ältere Eui-Kyung Kim von Hause aus Philosoph ist. Der Autor machte bereits in den siebziger Jahren in seiner Heimat mit spektakulären Inszenierungen seiner Texte auf sich aufmerksam. Oh ist ein Vollblutregisseur, dem u.a. auch bedenkenswerte Interpretationen von klassischen Stücken der Weltliteratur – wie jüngst Shakespeares »Romeo und Julia« oder Brechts »Dreigroschenoper« in Seoul zu verdanken sind. Auch sein Stück »Warum das Mädchen Sim-Tscheong zweimal ins Wasser ging« ist eine Materialbearbeitung im Brechtschen Sinne. Grundlage für Oh sind jedoch nicht die biblischen oder griechischen Mythen – wie wir es u.a. auch von Thomas Mann, Christa Wolf oder Heiner Müller kennen – sondern die koreanische Legende von der tugendhaften Sim-Tscheong.

Hier wäre oberflächlich gesehen eine Gemeinsamkeit der Stücke von Kim, Park und Oh zu orten. Auch ihre Texte leben von der tief in der koreanischen Mentalität verwurzelten Zauber- und Märchenwelt. Da können Tiere sprechen, Bäume fühlen und Tote auferstehen. Das Wiedergänger-Motiv im »Ochsenmaler« wie in »Sim-Tscheong« verbindet produktiv die Zeiten. Jedoch tilgt Oh im Gegensatz zu den anderen beiden genannten Dramatikern radikal das Märchenhafte am Märchen, indem er märchenhafte Elemente zur Entblößung der Legende nutzt. Zurück bleibt eine nackte Realität der Zwänge, die Märchen nicht mehr in Erfüllung gehen läßt. Die althergebrachte koreanische Mentalität und Märchenweisheit, die Oh auf der Bühne anfänglich vorspielt, steigert sich schnell zur Provokation und Umkehrung aller Werte. Die sich hier darbietende Götter- wie Menschenwelt ist nur noch als Anti-Märchen faßbar, wie wir es spätestens seit E.T.A. Hoffmanns Erzählung »Klein Zaches« kennen.

Auch in Ohs Stück steckt »das Grauen der nächsten Nähe«, das den Mitmenschen nur noch als Mittel zum Zweck erscheinen läßt. Die Dialoge sind manchmal fast gnadenlos zu nennen. Egoismus, Mammonismus, Entfremdung und Brutalität einer modernen Welt werden in deftiger Tragikomik – die jedoch der Unterhaltsamkeit keineswegs entbehrt – ausgelebt. Die Bühne wird zum ›Laboratorium sozialer Phantasien‹, die dem Besucher mehr als den Zuschauerrang zugesteht. In diesen Fragen ist Oh ganz in seinem Element. Seine Inszenierung des 1994 in Seoul uraufgeführten Stückes »Warum das Mädchen Sim-Tscheong zweimal ins Wasser ging« erlebte ich als Beteiligte. Das Spektakel fand nicht in einer entfernten Märchenszenerie statt. Die Bilder bleiben.

Ebenso die emotional eindringlichen Worte des Mädchens Gil-Dscha, welche die nun nicht mehr willfährige Sim-Tscheong vor ihrem zweiten Sprung in das Meer wiederholen wird:

»Barfuß stehe ich mit meinen zwanzig Jahren und schaue zum Mond empor. Oh, Mond, du lieber, beleuchte meinen Weg. Ich sehe schwarz in der Dunkelheit ...
Wie nur kann man uns auf ein Zeichen vergeblich warten lassen.«

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