Leseprobe aus Wang Fremder Teufel


»Mutter, ich habe mich angemeldet für das Rückerziehungsprogramm durch Bauern in Ma Ao«, sagte ich und ballte die Fäuste in der Tasche. Diesen Satz hatte ich zwei Wochen lang eingeübt, und ich konnte ihn jetzt nicht länger aufschieben. Noch eine Woche, und ich mußte vor der Kommune Bericht erstatten.

»Du hast was?« Mutters Gesichtsausdruck wandelte sich von Entsetzen zu ärger. »Bist du von allen guten Geistern verlassen? Wer hat dir das erlaubt?« Sie sah den Ausdruck auf meinem Gesicht und änderte rasch ihren Ton. »Was genügt dir nicht daran, zuhause zu bleiben, zu lesen, zu lernen und alles zu tun, was du möchtest? Ich wünschte, wir könnten die Plätze tauschen, du gehst jeden Tag unterrichten und ich bleibe zuhause.«

Nein, Mutter, das möchtest du nicht, sagte ich im Stillen. Du würdest sterben, wenn du deine Tage mit Einkaufen, Kochen, Saubermachen und Waschen verbringen müßtest, und die einzige Belohnung, die du bekommst, sind irgendwelche Knöchel, die dir auf den Kopf klopfen. Tun, was ich möchte? Wenn ich mich endlich an meinen Schreibtisch setzen kann, bin ich so verdammt müde, daß ich über meinen Büchern einnicke. Schau mich doch an, die rauhen Hände, die schmutzige Schürze. Ich bin deine Magd, Mutter, eine kostenlose Magd, die du anschreien und schlagen kannst, wann immer dir danach ist.

»Schau«, sagte Mutter mit geöffneten Händen. »Es ist nicht meine Schuld, daß du in der Stadt keine Arbeit finden kannst. Alle Fabriken und Verwaltungsstellen haben aufgehört, neue Leute einzustellen. Wenn du die Stelle in der Munitionsfabrik nicht abgelehnt hättest, würdest du wenigstens dreißig Yuan im Monat verdienen. Ich hätte es besser wissen sollen, als auf deine törichten Lehrer zu hören und deinen Launen nachzugeben.«

Sie hörte auf, als sie die Verzweiflung in meinen Augen sah. In meinem letzten Schuljahr hatte sich ein Gerücht auf der Insel verbreitet, daß die Zugangsprüfungen zur Universität wieder eingeführt werden sollten und die Absolventen der Oberschule die Universität besuchen könnten, ohne zuvor für zwei Jahre in Fabriken oder auf dem Lande zu arbeiten oder in der Armee zu dienen. Jeden Morgen um vier stand ich auf, um Mathematik zu lernen, Chinesisch und die Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas, bevor ich meine Pflichten im Haushalt erledigte. Als Mutter mir das Bewerbungsformular für die Arbeit gab, schaute ich sie nur an. Sie wußte, daß ich entschlossen war, die Prüfungen zu machen. Ich ging direkt zu meinen Lehrern für Englisch und Mathematik. Sie hatten mir die Lehrbücher gegeben. Ich sagte ihnen, was geschehen war, und sie kamen sofort zu uns nach Hause und überredeten meine Mutter, mich meinen Abschluß machen und mein Glück versuchen zu lassen. Ich weiß nicht, was sie ihr versprochen haben. Eine Zeitlang hat sie mich ganz gut unterstützt. Sie schickte sogar meine Schwester morgens auf den Markt, damit ich mehr Zeit zum Lesen hatte.

Aber es gab keine Prüfung. Es war nur ein Gerücht gewesen. Deng Xiaoping, der die Sache mit der Wiederöffnung der Universitäten für Oberschulabsolventen aufgebracht hatte, war noch vor dem Ende des Schuljahres aus dem Zentralkomitee hinausgeworfen worden. Mutter fing an, mich in einem sarkastischen Tonfall ›gefallener Phönix‹ zu nennen. Meine Lehrer mußten ihr gesagt haben, ich könnte wie ein Phönix aus dem Hühnerstall aufsteigen.

»Habe Geduld, Ni Bing. Vielleicht brauchen die Fabriken im nächsten Jahr neue Leute. Ich werde mir Mühe geben, eine Arbeit für dich zu finden.«

»Ich werde nach Ma Ao gehen, Mutter«, sagte ich.

»Nein, das wirst du nicht. Du bist noch nicht einmal sechzehn. Du bist immer noch ein kleines Mädchen. Was kannst du auf dem Lande schon tun? Im Gras sitzen und den Bauern etwas vorsingen? Du kannst noch nicht mal gut singen.«

»Was immer ich dort tue, kann nicht schlimmer sein als das, was ich jetzt mache. Ist dir klar, Mutter, daß ich seit meinem zwölften Lebensjahr Karren ziehe, die mit fünfhundert Jin Kohle beladen sind und fünfzig Jin Süßkartoffeln auf meinem Rücken kilometerweit trage? Ich habe in diesem Haus zu arbeiten begonnen, als ich mit fünf zu euch kam. Wie kommt es, daß du da nie die Worte ›kleines Mädchen‹ benutzt hast?«

Sie schlug mir ins Gesicht. »Geh nur, es macht mir nichts aus! Doch komm nicht weinend und um Geld bettelnd zurück.«

»Niemals!« sagte ich und hielt meine brennende Wange. »Einer in unserer Familie muß gehen, stimmts? Shuang macht im nächsten Jahr ihren Abschluß und Hao in drei Jahren. Keine wird eine Arbeit bekommen, bevor nicht eine von uns aufs Land geht. Du möchtest doch nicht uns alle drei untätig zuhause rumsitzen sehen, abhängig von dir und Vater, oder? Von uns dreien, wer sollte gehen? Ich natürlich. Und weil ich ohnehin früher oder später gehen muß, werde ichs lieber gleich tun. Wenn ich hart arbeite und Glück habe, bekomme ich vielleicht eine Empfehlung für die Universität.«

»Vergiß die Universität, in Ordnung?« Mutter hatte mir zugehört, bis sie dieses Wort hörte. »Wie kannst du nur immer noch auf diese verrückte Idee fixiert sein? Ich weiß, daß du die Oberschule gut geschafft hast. Was solls? Die Welt hat sich verändert. Sie ist nicht mehr der rechte Ort und die rechte Zeit für deinen Traum. Intellektuelle sind chou lao jiu – ›stinkende Nr. 9‹, die niedrigsten aller Klassenfeinde in diesem Land, schlimmer als Diebe und Mörder. Schau mich an. Meine Ausbildung hat mir nichts als Unglück gebracht. Aber warum verschwende ich meine Zeit? Das weißt du ja alles.«

Ich starrte aus dem Fenster. Der graue Hinterhof war gerammelt voll mit Hühnerställen, Holz, zerbrochenen Möbeln und anderem Gerümpel. Auf der anderen Seite der Mauer war der ungepflasterte Weg, der zum Seehafen mit den aufgereihten grauen Kriegsschiffen und Fischerbooten führte. Dunkle Wolken hingen tief über dem Gipfel des Westlichen Hügels. Wenn die Sonne nicht durchkam, war auf der Insel jede Farbe ausgebleicht. Das Stimmengewirr feilschender Straßenhändler, Fahrradklingeln und das Tuten eines abfahrenden Schiffes waren schwach zu hören. Nichts hatte sich verändert, seit ich hierher kam, außer daß Mutter Falten in den Augenwinkeln hatte, seit sie aus der Umerziehungsklasse entlassen wurde. »Bist du glücklich, Mutter?«

»Was?« Sie schaute mich an, als sei ich verrückt. Wir sprachen selten, oder besser gesagt, ich hatte noch nie so viele Worte an sie gerichtet. Wenn sie mir Befehle oder Anweisungen gab, hörte ich mit niedergeschlagenen Augen zu, dann wandte ich mich still ab, um die Aufgaben auszuführen. Abgesehen von gelegentlichen Ausbrüchen meinerseits nannte ich sie kaum ›Mutter‹. »Was stimmt nicht mit meinem Leben?« Ihre Stimme klang drohend.

»Bedauerst du es, Kinder zu haben? Du bist eine begabte Tänzerin und Sängerin, und du bist so schön. Du hättest ein berühmter Star werden können. Waipo hat mir das erzählt.«

Aber was ich eigentlich wissen will, Mutter, ist, ob du es bedauerst, mich so jung bekommen zu haben. Du bist dreiunddreißig. Also wurdest du schwanger, als du erst sechzehn warst. Wie konnte das sein? Waipo und Waigong hatten große Hoffnungen in dich gesetzt. Sie bewahren immer noch die Preise auf, die du in der Oberschule gewonnen hast. Darunter befindet sich auch ein Zulassungsbrief zum zentralen Tanz- und Opern-Institut in Peking vom Frühling 1958. Was geschah? Bist du nicht gegangen, weil du mit mir schwanger warst? Habe ich dein Leben ruiniert? Ist das der Grund dafür, daß du immer so böse auf mich bist und ich mich dir nicht nahe fühlen kann? Oh, diese furchtbare Mauer zwischen uns – aber es ist noch mehr als eine Mauer. Es ist irgendetwas anderes. Bin ich wirklich deine Tochter? Mich schauderte. Du mußt aufhören, Unsinn zu denken, Ni Bing, sagte ich mir.

Mutter berührte mein Handgelenk, ganz behutsam, als wollte sie meinen Puls fühlen. Ihre Finger waren kalt und feucht. Sie schwitzte. Hatte sie meine Gedanken gelesen? Langsam ließ das Zittern nach. Mutter drückte meine Hand, bevor sie sie losließ.

»Deine Waipo hat ein großes Mundwerk.« Sie seufzte. »Bereue ich etwas? Sicher tue ich das. Wer tut das nicht? Aber ich hätte mich nicht anders entscheiden können. Damals wäre ich deinem Vater bis ans Ende der Welt gefolgt. Du bist noch zu jung, um das zu verstehen.« Sie schaute mir in die Augen.

Wir blickten einander an, bis ich als erste meine Augen niederschlug. Sie erzählte mir nicht die ganze Wahrheit. Sie verheimlichte etwas vor mir, genauso wie Waipo einen Teil der Geschichte von meiner Geburt verheimlichte. Doch ich bemerkte das Feuer, das über Mutters Gesicht aufblitzte. Sie hatte einmal geliebt, und das hatte ihrem Leben einen Sinn gegeben.

»Aber du und Vater, ihr streitet euch doch fast jeden Tag, über Geld, über Nainai. Du hättest eine große Künstlerin sein und in Peking oder Shanghai leben können. Jetzt mußt du mit jedem Fen in deiner Tasche rechnen, und deine Schüler rufen dich chou lao jiu, ›stinkende Nr. 9‹. Ich kann nicht in deine Fußstapfen treten, Mutter, selbst wenn ich deine Begabung hätte. Ich muß diese Insel verlassen. Der einzige Weg hinaus führt durch die Universität. Und der einzige Weg, an die Universität zu gelangen, besteht darin, zuerst Bäuerin zu werden. Vielleicht werde ich niemals für die Hochschule empfohlen, doch es kümmert mich nicht. Ich muß hier raus. Ich muß. Nichts kann mich aufhalten!«

Ich atmete schwer. So lange zu sprechen war anstrengend. Mutter starrte mich wie eine Fremde an. »Dann hast du wohl deine Entscheidung getroffen, du störrischer Esel.«

Ich nickte. »Es ist meine einzige Chance.«

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